Jedes Jahr im Frühling hagelt es Kritik in den Feuilletons des Landes – der Eurovision Song Contest steht an. Mitte Mai findet seit 1956 die größte Musikshow der Welt statt. Ein massenmediales Event der Superlative. „Zu politisch“, „zu teuer“, „Ost-Europa schiebt sich doch eh nur die Punkte zu“, „das ist alles altbacken“, Worte, die alle ESC-Interessierten so oder so ähnlich schon in der Zeitung gelesen haben.
Viel Kritik, das bedeutet aber auch, dass der ESC im Zentrum medialer und öffentlicher Aufmerksamkeit steht. Diese Aufmerksamkeit ist global, denn auch in China, den Vereinigten Staaten und Australien wird der Contest übertragen. „Eurovision“ sollte also nicht zu wörtlich genommen werden. Weltweit sahen etwa 183 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer den diesjährigen ESC in Rotterdam im Fernsehen. Auch auf YouTube kann sich der von der European Broadcasting Union ausgerichtete Wettbewerb großer Beliebtheit erfreuen. So nutzen rund 50,6 Millionen Menschen die Streaming Angebote. Auf Twitter zwitscherte es global mit 5 Millionen Tweets über den Contest. Beachtlich, wenn man bedenkt, dass dem „altbackenen“ Grand Prix viel Kritik entgegengebracht wird. Heute kann man guten Gewissens sagen: Der ESC ist jung, international, viel gesehen und vereint auf Social Media ein riesiges Netzwerk. Bestes Beispiel: Sieger Duncan Laurence schaffte es dank TikTok ein Jahr nach seinem Sieg in die Charts und trat sogar in der berühmten „The Ellen Show“ auf.
Als solches massenmediales Event, wird eine Kritik ganz besonders laut: Der ESC – das ist reine Politik! Und die Vermutung liegt nahe bei so einer Plattform, aber auch bei so vielen politischen Streitigkeiten in Europa, dabei geht das Teilnehmerfeld weit darüber hinaus. Rundfunkanstalten aus 56 Länder sind in der European Broadcasting Union zusammengeschlossen und damit teilnahmeberechtigt. Darunter auch Länder aus Nordafrika und dem Nahen Osten. Das politische Tagesgeschehen muss dabei außen vor bleiben: Eine Regel besagt, dass politische Botschaften auf der ESC-Bühne nicht geteilt werden dürfen. Belarus durfte deswegen in Rotterdam nicht auftreten – zu nah stand die Gruppe dem Machthaber Lukaschenko.
Neuste Bühnentechnik, riesige Arenen, die für die Ausrichtung hergerichtet werden, ein jährliches Motto, Tänze, Gesang und Outfits – Ist das alles unpolitisch? Ist Kultur unpolitisch?
In der wissenschaftlichen Literatur zum ESC – ja die gibt’s – fällt ein Begriff immer wieder: Nation Branding. Dem Namen leicht zu entnehmen, geht es bei dieser Strategie darum, Staaten zu vermarkten, ein Image zu kreieren und sich so auf dem internationalen (politischen) Parkett Vorteile zu verschaffen. „Branding“ – den Begriff kennt man eigentlich aus der Welt des kommerziellen Marketings. Man denkt an die großen Modemarken der Welt, Autos und vielleicht Schmuck, aber nicht an Staaten und vermutlich noch weniger an den Eurovision Song Contest. Mit Strategie machen sich Länder also daran, sich ein Image aufzubauen, die eigene Nation vorteilhaft zu präsentieren und zu kontrollieren, welche Narrative über das eigene Land in der Welt verbreitet werden. Marketing – nur nicht mit Taschen, sondern mit Staaten.
Und was hat das mit schrägen Outfits, Euro-Pop und dem Eurovision Song Contest zu tun? Die Strategie des Nation Branding ergänzt die kulturelle Diplomatie (cultural diplomacy) der Nationen. Dabei nutzen Länder ganz speziell Kultur, um sich zu präsentieren, zu vernetzen und auf der internationalen Bühne zu platzieren. Diplomatie mit Kultur als Sprache. Und die Beiträge beim ESC – auch wenn Kritiker:innen sicherlich stark Einspruch erheben würden – sind Kultur.
Gerade Russland und Aserbaidschan – das den Contest 2012 nach dem Sieg in Düsseldorf ausrichten durfte – wird eine Politisierung des Contests zu Gunsten von Selbstvermarktungszwecken immer wieder vorgeworfen. Dabei wird der ESC nicht nur über die musikalischen Beiträge für Nation Branding und kulturelle Diplomatie genutzt, sondern auch über die Funktion als Gastgeber. 2012 sollte Aserbaidschan – besonders aber die Hauptstadt Baku – als modern und weltoffen inszeniert werden. Unter dem Motto „Light A Fire“ wurde dafür eine Halle gebaut und das Stadtbild verändert. Das Feuer loderte dann aber schnell in eine andere Richtung, als die internationale Aufmerksamkeit dann auch auf Menschenrechtsverletzungen gerichtet wurde. Trotzdem geht der ESC 2012 in Baku (wie auch der ESC 2009 in Moskau) als einer der teuersten in die Geschichte der EBU ein – und ist damit ein Prachtexemplar für teures Branding. Marketing auf der internationalen Bühne ist mitunter teuer.
Aber zu schnell sollte man den Vorwurf „zu politisch“ dann nicht pauschalisierend laut werden lassen, findet auch Michael Sonneck, Präsident vom Eurovision Club Germany. Besonders wenn Feuilletons und Kritiker:innen die Punktevergabe zwischen Nachbarländern und sich politisch nahestehenden Nationen als Beweis für eine Politisierung heranziehen: „Man muss bedenken, dass viele Länder oft den gleichen heimischen Musikmarkt haben beziehungsweise einige Künstler:innen auch länderübergreifend bekannt sind“. Nur weil Aserbaidschan und Russland sich also gegenseitig Punkte geben, kann, aber muss dahinter keine politische Intrige oder gewisse Vermarktungszwecke stecken. Gleichzeitig weist Sonneck darauf hin, dass gerade die berühmten Postcards – kleine Filmchen zu Beginn des Auftritts, die Künstler:in und Land vorstellen – in der Vergangenheit ganz offensiv schon als Tourismuswerbung genutzt werden.
Ist die Kritik am medialen Musikevent der Superlative also berechtigt? Ist der ESC zu politisch? Nun, wo gehobelt wird fallen Späne und wenn Kritiker im selben Atemzug äußern, dass die Musik des Contests flach, einfältig und altbacken sei, dann werden Kunst und Kultur unterschätzt. Kunst hat meist – und beim ESC besonders – eine Botschaft. Die Geschichte hinter den Künstlern, den Tänzen, der Musik zu entdecken und sich auf diese Entdeckungsreise einzulassen, kann mitunter hochpolitisch sein, lädt aber auch zum Kennenlernen globaler Dynamiken ein.
Huhu, ich bin Laureen und studiere Internationale Beziehungen und Kommunikationswissenschaften hier in Erfurt. Medial begleiten mich hauptsächlich Podcasts über Politik und Zeitgeschehen und in einer ruhigen Minute schaue ich auch gerne in die Zeitung. Neben dem Studium bin ich selbsterklärte Expertin für medialen Gossip und den Eurovision Song Contest.